www.zeit-stiftung.deder ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd BuceriusnewsletterNr. 16 | März 2014ZEIT-Stiftung: Herr Kesting, wie fängt man Feuer bei der Oper und bei der klassischen Musik ­ wie war das bei Ihnen?Jürgen Kesting: Es war eine Initialzündung ­ eine Stimme hat mich verführt. Es war die Stimme von Rudolf Schock in dem Film ,,Du bist die Welt für mich". Ich habe sie immer wieder im Radio gehört, rasch andere Stimmen entdeckt und mit ihnen die Oper. Mit 15 war ich oft in der Oper, mit 21 habe ich in Wien jeden Abend im Stehparkett gestanden und Elisabeth Schwarzkopf, Leontyne Price, Christa Ludwig, Gianni Raimondi und Giuseppe Taddei gehört. Die Oper braucht die Stimmen der Verführerinnen und der Verführer. ZEIT-Stiftung: Oper und klassische Musik gelten als elitär, haben angeblich nichts mit dem Leben zu tun. Wo sehen Sie die größte Hemmschwelle? Jürgen Kesting: Die Hemmschwelle liegt in der Angst vor einer ästhetischen Herausforderung, vor etwas ,,Auserlesenem", dem man sich nicht gewachsen fühlt. Das oft gegen Oper und Konzert vorgebrachte ökonomische Argument ­ zu teuer ­ halte ich für vorgeschoben.ZEIT-Stiftung: Wie kann man einem breiten Publikum die Oper und die klassische Musik erschließen? Welche Rolle spielen dabei Stars wie Anna Netrebko oder David Garrett? Jürgen Kesting: Dass Auftritte wie die von Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann das ,,breite Publikum" an die Oper heranführen, ist schlicht eine Marketing-Lüge. Es geht dabei um den Umsatz der Veranstalter. Bei diesen Galas in luxuriöser Zirkusatmosphäre wer-den zu Schlagern abgesunkene Arien serviert, ohne jeglichen Sinn-zusammenhang. Ob der Kino-Paganini von David Garrett einem Geigenabend mit den Partiten von Bach auch nur fünf Besucher mehr beschert? Kenntnis, Wissen, Schulung des Geschmacks oder ästhetische Sensibilität ,,erschließen" etwas. Die Voraussetzungen dazu müssen gezielt geschaffen werden. ZEIT-Stiftung: Braucht die Oper, braucht die klassische Musik also Experten, deren Erläuterungen die Ohren und Herzen öffnen?Jürgen Kesting: Ja, ganz sicher. Es gab Wegweiser wie Leonard Bernstein oder Gerd Albrecht, auch Ingo Metzmacher reißt viele Barrieren ein. ZEIT-Stiftung: Alle lieben die Oper, aber keiner geht hin ­ das widerlegt ,,Hören, woher wir kommen" der ZEIT- Stiftung im Bucerius Kunst Forum. Wie erklären Sie den Erfolg der Reihe? Jürgen Kesting: Dieses Konzept verdeutlicht das Nachreifen, das Nachwirken eines Kunstwerks in der Geschichte. Das kann und soll ein sinnliches Vergnügen sein, aber auch durch eine ,,Kon-trasterfahrung" herausfordern. Viele unserer Vorstellungen haben ihren Ursprung in Kunstwerken ­ ob es nun um Wunschbilder der Verführung geht wie ,,Don Giovanni", um das hohe Paar wie Pamina und Tamino. Die Frage nach der Liebe und dem Abendland führt (unweigerlich) zu ,,Tristan und Isolde". Ich jedenfalls will vermitteln, dass die Welt ärmer wird, wenn der Gesang verstummt. Klassische Musik, nein danke? Ein Gespräch über die Lust zu hören, woher wir kommenEine Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung ergab, dass zwar 88 Prozent der Deutschen klassische Musik wichtig finden, aber nur 20 Prozent im letzten Jahr ein Konzert besucht haben. Wie sieht der Opernexperte Jürgen Kesting diesen Befund ­ und was tut die ZEIT-Stiftung, um die Ohren zu öffnen?Der Opernkritiker Jürgen Kesting im Gespräch mit Andreas Hoffmann, Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forum und Programmleiter Kultur der ZEIT-Stiftung
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